Die Physikerin Dr. Viola Priesemann wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Dannie-Heineman-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und der Wissenschaftspreis Niedersachsen. Sie leitet eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und lehrt an der Universität Göttingen. Aktuell gehört sie außerdem dem Corona-Expertenrat der Bundesregierung an.
Ihre Mutter ist Kunstpädagogin, Ihr Vater Jurist. Sie jedoch haben sich für ein Studium der Physik entschieden. Wie kam es dazu? Gab es hierfür eventuell einen bestimmten Auslöser?
Viola Priesemann: Mich interessierten schon immer komplexe Systeme und ihre Zusammenhänge. Ich will die grundlegenden Mechanismen und Wirkungswege verstehen: warum was wie in dieser Welt funktioniert. Schon damals hat mich auch interessiert, wie genau die gesellschaftlichen Zusammenhänge ablaufen und inwieweit man die kollektive Dynamik einer Gesellschaft verstehen kann. Diese Frage ist zwar sehr schwer zu beantworten aber eben hochspannend. Ich selbst forsche im Bereich neuronale Netze, also gehe der Frage nach, wie genau das Denken und Lernen im Gehirn entstehen kann. Dabei verstehen wir dieses Lernen als eine abstrakte Strukturbildung. Das neuronale Netz bildet Strukturen heraus, mit denen es etwa einen Hund als Hund oder eine Katze als Katze einordnen kann. In unserem Kopf ist also nicht einfach ein Spaghetti-Topf von Neuronen mit zufällig entstandenen Verbindungen, sondern die Verbindungen wachsen und ändern sich nach bestimmten Regeln. Es kann also als ein wundervolles komplexes System verstanden werden, und wir erforschen, wie es sich selbst organisiert und funktioniert.
Was ist aus Ihrer Sicht das Faszinierende an Physik?
Viola Priesemann: Gerade die Physik komplexer Systeme hat eine gewisse Ästhetik und Eleganz. Und sie hat schon einige beeindruckende Erfolge erzielt. Eines der elegantesten Ergebnisse ist die mathematische Erklärung, wie die Streifen eines Zebras oder die Punkte eines Geparden entstehen könnten. Diese Erklärung hat Alan Turing hergeleitet (Verlinkung Video https://youtu.be/alH3yc6tX98). Er hat zwei Gleichungen aufgestellt, die die effektive Interaktion zwischen den Farbpartikeln beschreiben. Wenn man in den zwei Gleichungen nur ein wenig die Bedingungen ändert, gibt es ganz verschiedene Muster – Streifen oder auch Punkte, wie zum Beispiel beim Geparden. Es ist also eine ganz einfache und elegante Erklärung, wie ein Zebra zu seinen Streifen kommen könnte, aber auch wie Streifen, Punktmuster oder, wenn man es erweitert, auch Wellen, Waben, Spiralen und andere Muster entstehen. Solche Phänomene erforschen wir am Campus Göttingen, und für mich ist das wahnsinnig inspirierend.
Sie forschen im Bereich „Modellierung komplexer Systeme“. Was macht man beim Modellieren?
Viola Priesemann: Bei der Erstellung eines Modells geht es vor allem darum, die wichtigen Dinge mit einzubeziehen und die weniger wichtigen außen vor zu lassen. Wenn ich also ein Haus bauen und wissen möchte, wie der Lichteinfall dort sein wird, muss ich in mein Modell die genaue Lage der Fenster integrieren. Wenn ich aber hingegen wissen möchte, ob alle Wasserleitungen dort ankommen, wo sie auch ankommen sollen, und ob mein Abwassersystem im Haus funktioniert, dann ist die Lage der Fenster nicht wichtig. Beim Modellieren komplexer Systeme muss zuerst die Frage klar definiert werden. Jede Frage braucht im Zweifel ihr eigenes Modell. Danach identifizieren wir die wichtigen Faktoren, die wir unbedingt brauchen, um bestimmte Eigenschaften vom Gehirn oder eben bestimmte Eigenschaften von der Ausbreitung einer Corona-Infektion darzustellen. Die weniger wichtigen Faktoren lässt man raus. Wenn man innerhalb seines Modells eine gute Balance trifft zwischen Vereinfachung und Komplexität, dann kann es gelingen, grundlegende Eigenschaften des echten Systems zu verstehen.
Während der Corona-Pandemie haben Sie gezeigt, inwiefern sich aus Modellierungen Prognosen ableiten lassen bzw. wie Modellierungen in praktisches Handeln münden können. Denken Sie, dass die Bedeutung solcher Berechnungen in der Öffentlichkeit weitgehend unterschätzt oder missinterpretiert wird?
Viola Priesemann: Viele Missverständnisse könnten wir vermeiden, wenn allen klar ist, dass es zwei Arten von Modellen gibt: zum einen diejenige, die man mit der Wettervorhersage vergleichen kann, zum anderen jene, die nach den Mechanismen fragen, was in meinem Vergleich die Klimaforschung wäre. Auf die Pandemie bezogen wären das also Fallzahlvorhersagen und das Verständnis von Prinzipien der Infektionsverbreitung. Diese Prinzipien erforschen wir, und sie helfen uns besser zu verstehen, wie eine Pandemie eingedämmt werden und wie ein Übergang zum endemischen Zustand aussehen kann. Das ist also ganz klassisch ein komplexes System, das wir untersuchen. Oft wird in der Öffentlichkeit aber nicht klar zwischen beiden Zielen, der Vorhersage und dem Verständnis, unterschieden. Stattdessen wird teilweise mit Zuspitzung oder Verallgemeinerung gearbeitet, die einer klaren Kommunikation im Weg stehen und viele Widersprüche generieren können.
Haben Sie das Gefühl, in bestimmten Bereichen aufgrund Ihres Geschlechts und Ihrer Position auf Widerstände zu stoßen?
Viola Priesemann: Man stößt immer wieder auf Widerstände. Und diese werden größer, je sichtbarer man wird. Dadurch vermeiden viele meiner Kolleginnen und Kollegen die Öffentlichkeitsarbeit. Das ist schade, denn viele haben sehr spannende Ergebnisse zu teilen. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir einen so respektvollen Umgang in der öffentlichen Kommunikation pflegen, dass alle Wissenschaftler:innen gerne ihr Wissen teilen. Für die Bewältigung der Klimakrise wird das noch mal deutlich wichtiger als es jetzt bei COVID war.
Können Sie jungen Frauen oder Mädchen, die aktuell mit dem Gedanken spielen, ein Physik-Studium aufzunehmen oder sich gar für Modellierungen interessieren, einen Ratschlag geben?
Viola Priesemann: Traut euch! Wenn euch ein Thema interessiert, dann bekommt ihr das auch hin. Es gibt viele Möglichkeiten, seinen Weg zu finden.