Typisch männlich? Mit Professorin Heidrun Stöger von der Universität Regensburg haben wir im Interview darüber gesprochen, warum immer noch deutlich weniger Frauen als Männer eine MINT-Karriere einschlagen und was gegen veraltete Rollenbilder getan werden kann. Die Psychologin und Gender-Forscherin hat vor nunmehr 18 Jahren das wissenschaftlich begleitete Online-Mentoring-Programm CyberMentor ins Leben gerufen. Heute engagieren sich in dem Programm jährlich bis zu 800 Frauen aus dem MINT-Bereich und begleiten als persönliche Mentorinnen MINT-interessierte Schülerinnen.
Mädchen bekommen in der Schule die gleichen technischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse wie Jungen vermittelt. Doch noch immer entscheiden sich nur sehr wenige für eine Ausbildung oder ein Studium in diesem Bereich. Wie erklären Sie sich das?
Genau diese Frage ist seit vielen Jahren ein zentrales Thema meiner Forschung. Es ist ein sehr komplexes Thema, da es nicht die eine Ursache gibt, sondern von einem breiten Ursachenbündel auszugehen ist.
In der Forschung betrachten wir im Grunde zwei große Bereiche: einerseits individuelle Merkmale und zum anderen Sozialisations- und Umwelteinflüsse – also Merkmale oder Aspekte, die außerhalb der Mädchen liegen. In beiden Bereichen gibt es sehr viele Hinweise für mögliche Gründe. Beispielsweise wählen Mädchen auch dann seltener MINT-Fächer oder MINT-Berufe, wenn sie genauso gute oder sogar bessere Leistungen erbringen als Jungen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Mädchen ein niedrigeres Vertrauen in ihre eigenen MINT-Fähigkeiten haben.
Außerdem gibt es verschiedene Studien, die belegen, dass generell bei beiden Geschlechtern das Interesse an MINT in der Pubertät absinkt. Bei Mädchen geschieht das allerdings stärker als bei Jungen, was auch mit ihrer Geschlechtsrollenidentität zu tun hat, die beispielsweise von Geschlechterrollenstereotypen beeinflusst wird. So zeigen Studien, dass Frauen nach wie vor eher als emotional und Männer eher als rational eingeschätzt werden. Auch das Stereotyp vom MINT-begabten Mann und der MINT-unbegabten Frau ist noch weit verbreitet. Unter anderem deshalb werden bestimmte Fächer und Berufe als typisch männlich bzw. als typisch weiblich bewertet.
Solche Vorstellungen werden durch unser soziales Umfeld geprägt: Eltern, Lehrkräfte, Peers und die Medien üben hier eine wichtige sozialisierende Wirkung aus. Sie tragen dazu bei, dass stereotype Vorstellungen entstehen und aufrechterhalten werden. Deshalb entwickeln Mädchen schließlich Erwartungshaltungen, nach denen sie im MINT-Bereich weniger erfolgreich sein werden und beginnen, den MINT-Bereich zu meiden.
CyberMentor, aber auch viele weitere Programme, versuchen gegen diese Vorurteile anzugehen und Frauen für MINT zu begeistern. Wieso funktioniert das nur bedingt?
Auch hier gibt es verschiedene Gründe. Beispielsweise existiert schon sehr viel Wissen aus der Forschung, unter welchen Bedingungen MINT-Programme wirksam sein können und warum manche Maßnahmen nicht wirken, allerdings kommt dieses Wissen zu selten in der Praxis an.
Sehr viele Maßnahmen sind auch nur kurzfristig angelegt. Sie können zwar das Interesse und die Motivation vorübergehend steigern, allerdings verpufft ihre Wirkung schnell wieder. Damit Fördermaßnahmen nachhaltig wirksam sind, müssen sie möglichst langfristig angelegt sein und an unterschiedlichen Ursachen gleichzeitig ansetzen.
Wichtig ist auch, möglichst viele Umweltbereiche in die Förderung einzubeziehen. Beispielsweise sollten außerschulische Maßnahmen mit schulischen Angeboten verknüpft werden. Außerdem sollten möglichst viele Personen wie Eltern oder Freund:innen aus dem Umfeld der Mädchen miteinbezogen werden. Denn selbst wenn Mädchen durch ein außerschulisches MINT-Angebot für MINT begeistert werden, nimmt das Interesse schnell wieder ab, wenn sie anschließend von Freund:innen oder Eltern hören, dass MINT eigentlich nichts für Mädchen sei. Laut Studien ist es leider immer noch so, dass Eltern ihre Töchter eher dazu ermutigen, Grundschullehrinnen zu werden, während sie bei ihren Söhnen eher Ingenieursberufe empfehlen.
Außerdem sollten Lehrkräfte reflektieren, ob sie unterschiedlich auf Jungen und Mädchen im Unterricht reagieren, zum Beispiel unterschiedlich loben oder unterschiedlich häufig aufrufen. Hier spielen also viele Aspekte eine Rolle. Für wirklich nachhaltige Veränderungen müssen wir an möglichst vielen dieser Ursachen gleichzeitig ansetzen und langfristige Fördermaßnahmen ermöglichen.
CyberMentor weckt seit 18 Jahren das Interesse junger Frauen und Mädchen an MINT – wie erklären Sie sich denn den großen Erfolg Ihres Programms?
Das CyberMentor-Programm berücksichtigt möglichst viele der genannten Aspekte. Zum Beispiel findet eine langfristige und kontinuierliche Förderung statt. Die Schülerinnen erhalten für mindestens ein Jahr passend zu ihren MINT-Interessen eine persönliche Mentorin, die als weibliches MINT-Rollenvorbild wirkt. In weiteren Mentoring-Jahren mit der gleichen oder einer neuen Mentorin können die Mentees auch zusätzliche MINT-Bereiche kennenlernen. Da ein frühzeitiger Beginn der Förderung wichtig ist, bevor sich Stereotype verfestigen, können Mädchen bereits ab der 5. Klasse an CyberMentor teilnehmen. Zusätzlich zum persönlichen Mentoring haben Mentees und Mentorinnen auch die Möglichkeit, sich auf der CyberMentor-Plattform mit bis zu 1600 anderen MINT-interessierten Teilnehmerinnen zu vernetzen.
Um Mädchen für den MINT-Bereich zu begeistern, ist es zudem wichtig, ihnen zu verdeutlichen, wie spannend und alltagsrelevant MINT ist. Bei CyberMentor wird das Mentoring-Jahr in aufeinander aufbauende MINT-Phasen mit verschiedenen Projektangeboten aufgeteilt. Beispielsweise beantworten die Teilnehmerinnen zunächst interessante MINT-Alltags-Fragen und arbeiten später im Mentoring-Jahr dann gemeinsam an immer komplexeren MINT-Projekten. Dadurch lernen die Mädchen, dass MINT überall im Alltag eine Rolle spielt und welche Praxisrelevanz schulische Inhalte haben. Ein Beispiel ist das Projektthema Covid, in dem sich Mentees, die sich für Informatik interessieren, mit der Funktionsweise von Covid-Tracking-Apps auseinandergesetzt haben. Mentees, die sich für Biologie und Medizin interessieren, beschäftigten sich mit Impfungen und Tests.
Ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor von CyberMentor ist sicherlich die Begleitforschung. Die Ergebnisse nutzen wir, um das Programm kontinuierlich zu verbessern und weiterzuentwickeln, und wir können lernen, unter welchen Bedingungen Fördermaßnahmen optimal funktionieren. Durch die lange Laufzeit von mittlerweile über 18 Jahren können wir auch belegen, dass Mädchen, die bei uns mitmachen, tatsächlich deutlich häufiger in den MINT-Bereich gehen als vergleichbar interessierte Mädchen, die nicht an CyberMentor teilnehmen.
Was wünschen Sie sich von Politik und Wirtschaft, um etwas an der aktuellen Situation zu ändern?
Im Grunde müsste man an allen Aspekten ansetzen, die wir besprochen haben. Man müsste Wissen aus der Forschung systematisch für die Praxis nutzbar machen und es sollten vor allem langfristige Maßnahmen gefördert werden, die an verschiedenen Ursachenbündeln gleichzeitig ansetzen. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass sich Maßnahmen – unter anderem aus dem schulischen und außerschulischen Bereich - vernetzen. Wichtig wäre sicherlich auch, eine seriöse Begleitforschung zu ermöglichen sowie nicht immer wieder neue Maßnahmen zu fördern, sondern bewährte Maßnahmen zu institutionalisieren. Eine Beachtung all dieser Aspekte könnte zu nachhaltigen Veränderungen führen.
Welchen Rat würden Sie jungen Mädchen mitgeben, die sich aktuell beruflich orientieren?
Lasst euch in euren Studien- und Berufswahlentscheidungen nicht von stereotypen Vorstellungen einschränken, sondern schnuppert auch in Bereiche, mit denen ihr vielleicht erstmal Berührungsängste habt. Nutzt möglichst viele geeignete MINT-Bildungsangebote in eurer Umgebung und macht online bei CyberMentor mit. Es geht nicht darum, dass am Ende alle in den MINT-Bereich gehen, aber alle sollten die Möglichkeit haben zu wissen, wie das Berufsleben in diesem Bereich wirklich aussieht.